Mit der Dampflok in das sommerliche Land (Gießener Allgemeine, 01.08.1970)

Folgender Text ist eine Abschrift eines am Samstag den 01.August 1970 in der Giessener Allgemeinen Zeitung Seite 4 (Stadt und Land) erschienen Berichts:

Veröffentlichung durch den Verlag genehmigt.

Eisenbahnromantik für eine Stunde

Mit der Dampflok in das sommerliche Land

Auf dem Führerstand der 052 613 von Gießen nach Londorf – 1 Tonne Kohlen warf Heizer Hermann Jung in die Feuerbuchse – Lokomotivenbaß heulte durchs Land

Gießen (in) Nur wenige Gießener sind sich der Schönheiten am Stadtrand und in der näheren Umgebung wirklich bewusst. Die Straßen ins Hinterland, sämtlich gut ausgebaut, verführen den Autofahrer dazu, das Tempo hochzuschrauben. Die Landschaft fliegt unbeachtet vorbei, die Strecke reißt an den Nerven.  Ein Erlebnis eigener Art, kostbar, weil schon in wenigen Jahren nicht mehr wiederholbar, ist eine Eisenbahnfahrt in den Sommer „vor den Toren“ der Stadt. Dafür reichen 25 km, ein gemütlicher Personenzug, eine gute alte Dampflok, und das „fair play“ der Bundesbahn, einmal auf dem Führerstand des Dampfrosses die kleinen Abenteuer des Schienenstranges erleben zu dürfen.

13.27 Uhr; der Personenzug # 3705 Gießen – Lollar – Londorf ist auf Gleis 5 abfahrbereit. Fahrgäste aus dem Lumdatal, meist Frauen, die in Gießen die Wonnen des Ausverkaufs genossen haben, lassen die Fenster der Abteile herunter. Die Dächer der acht Wagen flimmern unter der Hundstagshitze. Vorn auf der Lok wird es noch heißer.  Da dampft die Güterzuglok 613 der Baureihe 052. Sie soll die blitzsaubere Wagengarnitur aus der Stadt ins sommerliche Land ziehen.

Hauptlokführer Hofmann vom Bundesbahnbetriebswerk Gießen ist zum freundlichen technischen Dolmetscher für unser Redaktionsmitglied bestimmt, stellt sich mit einem schwarzen Schutzmantel vor. „Ziehen Sie den lieber an, eine Dampflokomotive ist nun mal kein Wohnzimmer!“ . Sie ist es nicht, doch der Führerstand der 052 613 erwärmt schnell das Gesprächsklima. „Seit 22 Jahren stehe ich auf der Lok“, versichert Richard Mingebach aus Limburg. Sein Heizer, Hermann Jung, auch aus Limburg, fährt erst seit einem Jahr bei der Bundesbahn. Die Lok hat als Heimatbahnhof ebenfalls Limburg in den Papieren.

In Gießen sind keine Dampfrösser mehr stationiert. Was hier noch über die Gleise dampft, sind Gäste aus benachbarten Betriebsämtern. Aber auch ihre Kilometer sind gezählt. Die Bundesbahn hat in den vergangenen Jahren umsichtig rationalisiert; sie hat es verstanden, abtrünnige Fahrgäste wieder in die weichen Sessel ihrer schnelllaufenden Züge zurück zu gewinnen.

Auf der Nebenbahn aber blüht noch die alte Eisenbahnromantik. Die hartgesottensten Autofahrer, zum Halt vor der rotblinkenden Signalanlage am Bahnübergang auffordert, spüren einen Hauch jener einst weltbewegenden Erfindung der Dampfmaschine, wenn noch ein von einer fauchenden Lok gezogener Zug vor ihrer Nase vorbeidonnert.

Die 052 613 ist kein Renner. Aber die 1944 gebaute Maschine, als Zugpferd für schwere Güterzüge konstruiert, ist auch in ihrem „hohen“ Alter noch außerordentlich rüstig.  Mit dem Schornstein nach hinten vor den Zug gespannt, legt sie sich, nach dem Abfahrtzeichen Hermann Jungs, sehr schnell in die Pleuelstangen. Schon vor der Brücke am Osswaldsgarten rüttelt und schüttelt sie sich unter der treibenden Kraft ihrer rund 2000 Pferdestärken.

Das Streckensignal zeigt grünes Licht auf der Lahnstrecke nach Lollar. Lokführer Mingebach schiebt den Dampfregler weiter nach vorn. Volldampf rückwärts voraus. Der Heizer reisst die Feuerungsbuchse auf und schaufelt naßglänzende Steinkohle. „Wir brauchen eine Tonne Kohlen von Gießen nach Londorf und zurück“.  Mingebach hat die Strecke im Auge. Sie läuft schnurgerade ins Lahntal. „Dieser Abschnitt erlaubt den E-Zügen Geschwindigkeiten bis zu 140 km/h“, erklärt Hauptlokführer Hofmann. Das Tachometer der 052 613 steht auf 85 km/h. Für eine Güterzuglok ihres Alters eine beachtliche Leistung.

Nach Lollar, wo die Umsteiger den Zug verlassen, geht es in einer sanften Rechtskurve ins Lumdatal. Die Räder „musizieren“ in den knappen Gleisführungen, erndtereife Felder schieben sich heran, der warnende Baß der 052 613 hallt dröhnend über das Land. An den Übergängen stoppen Ferienreisende im Wagen, ein paar Fußgänger sehen dem Mittagszug nach, der pfeiffend und ratternd die nächsten Kurven nimmt.  In Daubringen, Mainzlar und Treis steigen die meisten Fahrgäste aus. Die Bahnsteige liegen verschlafen in der Sonne. Der Aufsichtsbeamte tippt freundlich an der Mütze, wenn er Bekannte aus dem Waggon klettern sieht. Hier kennt sich jeder, und wenn einer mal außerplanmäßig aus dem Zug steigt, ist ein kleines Schwätzchen fällig. Hinter Allendorf werden die Auspuffschläge der Lok dann härter, weil eine Steigung erklommen werden muß.  14.01 Uhr, in Londorf steht der Anschlußbus nach Grünberg schon bereit; die Schienenwelt ist hier zu Ende.

052 613, vom Heizer abgekuppelt, fährt bis zur Weiche vor, der Aufsichtsbeamte schwingt sich mit einer Signalflagge auf das vordere Trittbrett.  Die Lok setzt zurück an die Zugspitze und 13 Minuten später geht es mit der jetzt zum Personenzug # 3706 gewordenen Wagenschlange zurück nach Gießen.

Wieder hallt Lokomotivenpfiff durch die sommergrünen Täler. In Lollar erhält der Lokführer das Signal zur beschleunigten Ausfahrt. „Wahrscheinlich liegt ein ganz Schneller aus Marburg hinter uns“  kommentiert Hauptlokführer Hofmann.

Gießen ist zwar Endstation für den Zug, aber nicht für die Lok 052 613. „Sie nimmt abends einen Zug in Richtung Limburg! „  Wie lange noch? Auf den Nebengleisen rauschen die schnellen unromantischen E-Züge vorbei, doch Lokführer Mingebach hat nur Augen für seine Lok. Er bleibt ihr dienstlich treu und hofft, dass es bis zu seiner Pensionierung so bleiben wird.

Für echte Eisenbahnromantik gibt es noch die Kurzstrecken, aber sie sind die kleine Reise wert. 052 613 und ihr Personal führen das täglich mit dem Mittagszug vor. Abfahrt 13.27 Uhr ab Bahnsteig 5, bitte einsteigen und Türen schließen.

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